Swipe, Match, Mindfuck
- Ramona Zenger
- vor 5 Tagen
- 6 Min. Lesezeit
Online-Dating aus psychologischer Sicht
Online-Dating ist längst kein exotisches Phänomen mehr. Wer heute datet, hat mit hoher Wahrscheinlichkeit irgendwann eine App installiert, geswiped, gematcht – und dabei möglicherweise auch Enttäuschungen erlebt. In Therapiesettings taucht dieses Thema immer wieder auf. Nicht, weil Online-Dating per se problematisch wäre, sondern weil es eng verknüpft ist mit Fragen nach Selbstwert, Zurückweisung, Bindungsfähigkeit und zunehmender Frustration.
Zu Beginn wirkt die Nutzung solcher Apps für viele attraktiv: Einige Fotos werden hochgeladen, ein kurzer Text verfasst, und schon folgen erste Rückmeldungen, Matches und Nachrichten. Es entsteht der Eindruck eines schnellen, unkomplizierten Zugangs zu neuen Menschen und zu unterschiedlichen Formen von Intimität. Gleichzeitig wird jeder Nicht-Match, jede ausbleibende Antwort leicht als Rückmeldung zur eigenen Person interpretiert. Viele Matches werden als Bestätigung erlebt, ausbleibende Resonanz oder abgebrochene Konversationen dagegen als Serie kleiner Zurückweisungen. Für zahlreiche Nutzerinnen und Nutzer wird Online-Dating damit zu einer Mischung aus Hoffnung und einem fortlaufenden Test der eigenen Liebes- und Beziehungsfähigkeit.
Hinzu kommt, dass die Nutzung oft Züge von Online-Shopping annimmt. Profile werden durchgeswiped wie Produkte in einer Shopping-App. Mit einem Wisch nach rechts wird "in den Warenkorb gelegt" ohne dass bereits wirkliche Verbindlichkeit entsteht. Im Hintergrund bleibt die Vorstellung bestehen, es könne jederzeit noch eine attraktivere Option auftauchen. Das scheinbar unbegrenzte Angebot untergräbt Verbindlichkeit. Menschen schreiben parallel mit mehreren Kontakten, treffen sich mit ein oder zwei davon und swipen gleichzeitig weiter. In therapeutischen Gesprächen berichten viele, dass Kontakte oberflächlich bleiben, Gespräche kaum in die Tiefe gehen, Treffen austauschbar wirken und zunehmend der Eindruck entsteht, nichts sei mehr "echt". Man tanzt auf mehreren Hochzeiten, und kommt doch nirgends wirklich an.
Auffällig sind auch geschlechtsspezifische Unterschiede in der Nutzung und im Erleben der Apps. Studien und klinische Erfahrungen deuten darauf hin, dass Frauen tendenziell selektiver sind: Sie swipen häufiger nach links, lehnen mehr Profile ab und haben dadurch oft vergleichsweise viele Matches mit Personen, die sie tatsächlich interessant finden. Männer hingegen swipen insgesamt grosszügiger nach rechts, sagen also bei mehr Profilen "Ja", erleben im Anschluss aber entsprechend häufiger Ablehnung und bleiben häufiger ohne Match oder ohne vertiefenden Kontakt. Diese Diskrepanz zwischen der hohen Anzahl an Likes und den ausbleibenden positiven Rückmeldungen kann den Selbstwert erheblich belasten. Viele Männer erleben sich als nicht attraktiv genug oder nicht konkurrenzfähig. Es handelt sich dabei nicht um eine Opfererzählung, sondern um ein Beispiel dafür, wie stark die Mechanik dieser Plattformen psychisch wirkt – auf alle Geschlechter, wenn auch in unterschiedlicher Form.
Nach einer gewissen Zeit berichten viele Nutzende von Erschöpfung. Anfangs steht oft Neugier im Vordergrund, vieles wirkt spielerisch und leicht. Nach Wochen oder Monaten intensiven Swipens, Schreibens und Treffens kippt dieses Erleben jedoch häufig in Frustration und Zynismus. Nicht wenige geraten in einen typischen On-Off-Zyklus: Die App wird installiert, eine Phase intensiver Nutzung folgt, Enttäuschungen häufen sich, die App wird gelöscht oder deaktiviert. Nach einer Weile entsteht dann wieder das Gefühl, dass es offline ebenfalls schwierig sei, neue Menschen kennenzulernen – und der Kreislauf beginnt von vorn. Dieser Prozess bindet viel Energie und verstärkt häufig genau jene Selbstzweifel, die ohnehin schon vorhanden waren.
Seit der Verbreitung von Dating-Apps hat zudem ein bestimmtes Interaktionsmuster stark an Sichtbarkeit gewonnen: Ghosting. Damit ist der abrupte Kontaktabbruch ohne Ankündigung oder Erklärung gemeint. Von einem Tag auf den anderen herrscht Funkstille. Psychologisch betrachtet handelt es sich um eine Form der Zurückweisung, die besonders schwer zu verarbeiten ist, weil sie jede Orientierung nimmt. Die betroffene Person weiss nicht, woran sie ist, beginnt zu spekulieren, ob sie etwas Falsches gesagt habe, "zu viel", "zu wenig", "zu direkt" oder "zu langweilig" gewesen sei. Da es keine Information von aussen gibt, wird der vermeintliche Fehler häufig bei sich selbst gesucht. Gerade Menschen mit geringem Selbstwert oder ausgeprägter Konfliktvermeidung sind davon besonders betroffen.
Für diejenigen, die ghosten, ist dieses Verhalten hingegen oft bequem. Es vermeidet ein unangenehmes Gespräch, den direkten Ausdruck von Grenzen und die Konfrontation mit der Enttäuschung des Gegenübers. Genau deshalb ist Ghosting weit verbreitet. Viele, die in der Therapie darüber sprechen, berichten gleichzeitig, dass sie selbst schon geghostet haben. Sie wurden verletzt, haben dieses Muster übernommen und setzen es ihrerseits fort. So entsteht ein Teufelskreis: Fast alle leiden darunter, viele beteiligen sich daran. Dass ein grosser Teil der aktiven Nutzerinnen und Nutzer von Dating-Apps Ghosting bereits erlebt hat, erscheint vor diesem Hintergrund wenig überraschend.
Aus therapeutischer Sicht ist ein zentrales Anliegen, den Selbstwert von diesen dynamischen Prozessen abzukoppeln. Die leitenden Fragen sind: Wer ist eine Person, wenn Apps, Matches, Likes und Chats für einen Moment wegfallen? In welchen Lebensbereichen erlebt sie sich als kompetent, klar und sicher? Worüber definiert sie ihren Wert? Problematisch wird es, wenn sich das "Wie komme ich auf der App an?" zum Hauptmassstab für Selbstwahrnehmung entwickelt. Dann beginnen Stimmung und Selbstbild, sich an einer Plattform auszurichten, deren Mechanik nicht für psychische Stabilität entworfen wurde, sondern für maximale Nutzungsdauer und Profit.
Gleichzeitig lohnt sich ein genauer Blick auf das Nutzungsverhalten. Wer Dating-Apps in jeder freien Minute öffnet, um rasch ein wenig Bestätigung zu bekommen, wird zwangsläufig immer wieder mit Ablehnung konfrontiert. Nicht, weil die eigene Person defizitär wäre, sondern weil Zurückweisung ein struktureller Bestandteil der Plattformlogik ist. Menschen, die sich hingegen bewusst entscheiden, wie viel Zeit sie investieren möchten und diese Zeit präsent nutzen – ohne gleichzeitiges Multitasking in anderen Apps –, erleben Online-Dating häufiger als ein Werkzeug, um neue Menschen kennenzulernen und auch etwas über sich selbst zu erfahren, statt primär als Quelle von Mikroverletzungen.
Ein weiterer wichtiger Aspekt ist die Kommunikationskompetenz. Viele wissen schlicht nicht, wie sie einer anderen Person höflich, aber klar mitteilen können, dass es für sie nicht passt. Aus Unsicherheit oder Überforderung wird dann gar nichts mehr geschrieben. In therapeutischen Kontexten lässt sich das konkret üben. Einfache Formulierungen wie "Danke für das Kennenlernen, ich merke, dass es für mich nicht stimmig ist, ich wünsche dir alles Gute" können einen erheblichen Unterschied machen – für beide Seiten. Die empfangende Person erhält Klarheit, statt im Ungewissen zu bleiben. Für die sendende Person bedeutet eine solche Nachricht, Verantwortung für das eigene Verhalten zu übernehmen, statt sich hinter Schweigen zu verbergen. Nicht selten berichten Menschen anschliessend von positiven Reaktionen: Dankbarkeit für Ehrlichkeit statt "Drama". Solche Erfahrungen erhöhen die Wahrscheinlichkeit, auch künftig auf Ghosting zu verzichten.

Parallel dazu hat sich im Kontext von Online-Dating ein intensiver Diskurs um "Red Flags" entwickelt. In sozialen Medien kursieren lange Listen, was alles als Warnsignal gelten soll: Phasen geringerer oder fehlender körperlicher Anziehung, Momente des Nicht-Verstanden-Werdens, unterschiedliche Sauberkeitsvorstellungen, Tage ohne Lust auf tiefgründige Gespräche. Aus beziehungstheoretischer Sicht sind dies jedoch typische Bestandteile normaler Beziehungsdynamik. Nähe und Distanz verändern sich, Verstehen und Missverstehen wechseln sich ab, sexuelle und emotionale Anziehung verläuft in Wellen, nicht linear. Echte Red Flags sehen anders aus: Gewalt, massive emotionale Unverfügbarkeit, eine konsequente Verweigerung, über Probleme zu sprechen, abwertende oder herabsetzende Kommunikation, wiederkehrende Verletzungen, die nicht gesehen oder sogar geleugnet werden. Wenn jede Irritation und jeder Unterschied zur "Red Flag" erklärt wird, entsteht ein innerer Standard, den letztlich niemand erfüllen kann, auch die eigene Person nicht. Eine hilfreiche Frage lautet deshalb: Würde man selbst all die Kriterien erfüllen, die man an andere anlegt? Fällt die Antwort eher verneinend aus, kann es sinnvoll sein, diese Liste kritisch zu überarbeiten.
Häufig wird auch diskutiert, ob Online-Dating die Bindungsfähigkeit einer Generation zerstört. Wahrscheinlicher ist, dass es Commitment weniger attraktiv erscheinen lässt, weil der "Markt" scheinbar permanent geöffnet ist. Wenn jederzeit zahlreiche potenzielle Alternativen nur einen Swipe entfernt scheinen, wächst die Versuchung, sich nicht vollständig auf eine Beziehung einzulassen, sondern in einem Zustand des "Halb-drin-Halb-draussen" zu verbleiben. Dieser Gedanke kann auch bestehende Partnerschaften beeinflussen: Schon das Wissen um jederzeit verfügbare Apps kann als innerer Notausgang fungieren. Das bedeutet nicht, dass Menschen heute grundsätzlich nicht mehr verbindlich sein können. Es heisst allerdings, dass bewusste Entscheidungen und Reflexion über die eigene Haltung zu Bindung und Alternativen wichtiger geworden sind.
Aus psychologischer Perspektive stellt sich letztlich die Frage, in welchem emotionalen Zustand Menschen die Nutzung von Dating-Apps zurücklässt. Fühlen sie sich danach regelmässig erschöpft, klein gemacht oder gereizt, deutet dies auf einen ungesunden Umgang hin. In solchen Fällen können Pausen, klare Zeitbegrenzungen, therapeutische Unterstützung oder zumindest ehrliche Selbstreflexion hilfreich sein. Entscheidend ist, ob die Plattform in erster Linie verwendet wird, um echte Begegnungen zu ermöglichen und sich selbst besser kennenzulernen, oder primär dazu dient, kurzfristig Defizite im Selbstwert zu kompensieren.
Ein weiterer zentraler Punkt betrifft die Frage, ob sich Menschen aktiv an zynischen Mustern wie Ghosting beteiligen oder bewusst dagegen entscheiden. Niemand kann das gesamte System ändern, aber jede Person hat Kontrolle darüber, ob sie selbst Klarheit und Respekt lebt oder andere im Unklaren lässt. Aus klinischer Sicht spricht vieles dafür, auf Ghosting zu verzichten und stattdessen kurze, ehrliche Nachrichten zu formulieren, wenn ein Kontakt nicht weitergeführt werden soll. Für die betroffene Person kann dies den Unterschied bedeuten zwischen quälender Grübelei und einem klaren, wenn auch enttäuschenden Abschluss. Gleichzeitig schützt ein solches Verhalten die eigene Fähigkeit, nicht vollständig in den zynischen und konsumorientierten Aspekten der aktuellen Dating-Kultur zu versinken. Online-Dating wird bleiben. Die entscheidende Frage ist, ob Menschen darin passiv mitgetrieben werden, oder lernen, sich darin bewusst und mit einem Mindestmass an psychischer Selbstfürsorge zu bewegen.






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